VON GUDRUN TÖPFER
Keiner kann es mehr hören: Der Chef muss dies, eine Führungskraft muss das, Leadership und überhaupt. Wo kommen wir her, was diese ganzen Themen angeht? Und wo geht die Reise hin?
Wir sind viele Jahre ein Bild vom Chef gewöhnt, das – implizit oder explizit – unsere Erwartungen und Vorstellungen davon prägt, was ein Chef macht. Blicken wir mal eine Zeitlang zurück: Woraus hat sich in der Vergangenheit Führung gerechtfertigt? Wann, oder besser gesagt warum, war jemand eine Führungskraft? In den Zeiten vor der industriellen Revolution haben Menschen im Handwerk zusammengearbeitet und ein Meister hat z. B. einer Werkstatt vorgestanden. Heute würde man sagen, in einem überschaubaren und auch lokal begrenzten Rahmen war er die eierlegende Wollmilchsau: Er war Geschäftsführer, Vertriebler und Marketing-Spezialist, er war Ausbilder, Experte, Projektleiter und natürlich oberster QM-Beauftragter, irgendwie wahrscheinlich auch noch Buchhalter und Inkasso-Unternehmen – alles vereint in einer Person. Manche dieser Aufgaben ergaben sich aus dem Umstand, dass er nun mal selbst der Unternehmer war, aber sogar diese Tätigkeit gründete sich in der Tatsache, dass er etwas konnte, was alle anderen wahrscheinlich nicht konnten. Zum Beispiel einen Schrank bauen. Und diesen Schrank wollte jemand anderes haben, der ihn selbst nicht herstellen konnte, der aber bereit war, dafür Geld zu bezahlen (oder frisch gebackenes Brot herzugeben – wiederum etwas, was unser Handwerker vielleicht haben wollte, aber selbst nicht herstellen konnte). Kurzum: Diese Führungsrolle basierte auf Wissen und damit verbunden Fähigkeiten und Fertigkeiten.
Seitdem haben sich die Zeiten in mehrerlei Hinsicht geändert. Einen Schrank kaufen wir mittlerweile in einem von x Möbelhäusern, das Brot bei einem von x Bäckern in der Umgebung. Das Wissen darum, wie man einen Schrank baut oder ein Brot backt, lässt sich bei ausreichend Motivation relativ einfach „ergoogeln“ oder „er-youtube-n“, es lassen sich unzählige Zwischenstufen finden (Bausatz für einen Schrank kaufen, wo alle Holzteile schon richtig zugeschnitten sind/Brotbackmischung kaufen/Brotbackautomat kaufen/Handwerkerkurs besuchen/ …). Die Verfügbarkeit von Wissen ist eine der kennzeichnenden Eigenschaften unserer Zeit geworden und dies gilt eigentlich auch für die Arbeitswelt: Einen Ansprechpartner für ein spezifisches Problem oder eine Fragestellung zu finden, ist kein Problem mehr. Das größere Problem besteht mittlerweile eher darin, dass man zu viel Informationen bekommt, die sich schlimmstenfalls widersprechen (das ist relativ einfach zu testen, wenn man einfach mal googelt, was „gesunde Ernährung“ ist). Der „Besitz“ von Wissen, das sonst niemand hat, ist also für Führung anscheinend nicht mehr das zentrale Element, wobei wir uns sicher einig sind, dass die völlige Abwesenheit von Fachwissen auch nicht hilfreich ist.
Wenn der Chef also nicht mehr derjenige ist, der „mehr“ weiß oder „es besser weiß“ als alle anderen, welche Eigenschaften hat ein Chef dann in dieser Gemengelage, in der viele Menschen mit noch viel mehr Wissen an komplexen Problemen arbeiten sollen, in einer sich rasend schnell verändernden Zeit mit technologischem Fortschritt und einem irrsinnigen Tempo, in dem Wissen veraltet ist, sobald es geboren ist?
Alles, was ab jetzt kommt, kann eigentlich nur noch subjektive Meinung sein, denn die Ansichten darüber, was eine Führungskraft denn nun sein/tun/lassen soll, gehen ähnlich weit auseinander wie die Ansichten über „gesunde Ernährung“.
- Ein Lager bleibt dabei: Eine Führungskraft zeichnet sich immer noch dadurch aus, dass sie Dinge weiß und in bestimmten Problemstellungen Erfahrungen hat, die andere nicht haben. Damit wird sie zur „Kontrollinstanz“ und winkt durch, was ein gutes Arbeitsergebnis ist (und fordert zu einer weiteren Schleife auf, wenn das Ergebnis nicht so gut ist).
- Eine weitere Gruppe ist der Meinung, dass Führungskräfte Organisatoren sein sollen: Sie sollen den Rahmen rund um das Arbeitshandeln gestalten, sollen für Ruhe/Ressourcen/Wissen/Termine/gute Bürostühle/Infrastruktur/etc. sorgen. Damit tritt er in den Hintergrund und die arbeitenden Personen regeln Probleme und deren Lösung selbst.
- Dann gibt es jene Vertreter, die der Meinung sind, eine Führungskraft ist diejenige, die für gute Stimmung sorgt – und das klingt abwertender, als es gemeint ist! Denn um dies tun zu können, muss sich die Führungskraft eng mit dem Tagesgeschehen beschäftigen, muss aufbauen, wo Missstimmung nach einem Misserfolg herrscht, muss Ideen geben und Inspiration in den Raum bringen, wo keine guten Ideen mehr vorhanden sind. Sie stellen sich bei Misserfolgen vor ihre Truppe und fangen die ersten Kugeln ab.
- Eng daran angegliedert sind jene, die für ein Bild der Führungskraft als Coach einstehen. Diese Führungskräfte befassen sich intensiv mit jedem Mitarbeiter und stellen Umgebung und Unterstützung zur Verfügung, die individuell auf den Mitarbeiter zugeschnitten sind. Damit wird das Motto „Fördern und Fordern“ zum zentralen Mantra und jeder Erfolg oder Misserfolg eines Mitarbeiters gehen die Führungskraft an seiner Seite gleichermaßen an.
Mein Fazit? Ich persönlich denke, dass das Bestehen in unserer Zeit per se die zentrale Herausforderung ist. In dieser Zeit Handlungsfähigkeit herzustellen und Entscheidungen zu treffen, ist die Aufgabe der Führungskraft geworden. Dazu muss sie alle eben genannten Bereiche abdecken und ihre nobelste Eigenschaft ist es, zu entscheiden, wann was gefragt ist. Eine – aus meiner Sicht – gute Führungskraft beschäftigt sich einen guten Teil der Zeit mit der Beobachtung des „Arbeitssystems“ um sie herum. Sie fragt sich:
- Muss ich mich überhaupt einmischen? Wenn ja, wie stark und wie am besten?
- Wie kann ich meine Mitarbeiter unterstützen, sich voll einzubringen und gleichzeitig gute Ergebnisse zu liefern?
- Wer von meinen Mitarbeitern braucht was – an Feedback, Wertschätzung, Anbindung?
- Fehlt es an Kontakten/Information/Material? Wenn ja, wie kann ich das liefern?
- Klemmt es an Reibungen im Team, sodass wir nicht vorankommen? Wenn ja, woran liegt das und was kann ich dagegen tun?
- Hängt ein Thema, weil eine Entscheidung getroffen werden muss, die vielleicht niemand treffen will? Und wenn ja, kann ich sie treffen?
- Sind wir mit einem Thema nochnicht erfolgreich? Oder wird es nie erfolgreich sein und wir müssen den geordneten Rückzug antreten? Wenn ja, was kann ich mit meinem Team daraus lernen und was kommt danach?
Damit ist die liebste Antwort, die ich persönlich von Führungskräften höre, wenn es um ihre Handlungsmaximen geht: Kommt drauf an.
Unsere Gastautorin Gudrun L. Töpfer ist 1982 im tiefen Bayern geboren. Nach dem Abitur hat sie in Freiburg i. Breisgau Bildungswissenschaften studiert und anschließend einen Master in Psychologie absolviert. Nach zwei Jahren Schnuppern in einem Start-Up-Unternehmen hat sie selbst den Schritt gewagt und das Wechselwerk gegründet – eine Unternehmensberatung mit dem Schwerpunkt Arbeits- und Organisationspsychologie. Mit ihrem Hintergrund kann sie besonders da helfen, wo es um die schwerer greifbaren Bereich geht, die den „Faktor Mensch“ betreffen: Veränderungsprozesse, exzellente Führung, Motivation und Unternehmenskultur sowie Qualifizierungsprozesse – alles große Herausforderungen für die Unternehmen in unserer dynamischen Zeit.
Von Frau Töpfer sind auf unserer Homepage bisher folgende Artikel erschienen:
06.12.2018 - Neue Anforderungen an Unternehmen heute
07.02.2019 - Bedingungen für Veränderungen in Unternehmen
18.04.2019 - Das Konzept der Lernenden Organisation als Basis für zukunftsgerichtete Unternehmen