VON GUDRUN TÖPFER
Zum Thema Lernende Organisation ist schon so viel geschrieben worden, dass es mittlerweile schwierig ist, sich im Dschungel aus Konzepten, Begrifflichkeiten und Definitionen zurechtzufinden. Versuchen wir gemeinsam eine Näherung?
Gehen wir zunächst nur von den beiden Worten aus, ist eine Lernende Organisation eine Organisation, die lernt. Damit ist noch nichts darüber ausgesagt, wie sie das tut, wann sie lernt, welche Lernanlässe es gibt und woran man überhaupt erkennen könnte, dass sie lernt. Um sich der Thematik zu nähern, könnten wir zuerst einmal die Begriffe Lernen und Organisation näher unter die Lupe nehmen und uns fragen: Was bedeutet Lernen, was ist eine Organisation?
Lernen wird, wenn man es kurz halten möchte, oft mit Wissensaneignung gleichgesetzt. Eine Organisation ist, wiederum kurz gefasst, ein Zusammenschluss von Individuen, um gemeinsam einen Zweck zu erfüllen. Im Falle von Unternehmen als Organisationen können wir sagen, dass es einen Organisationszweck gibt (nämlich gemeinsame Wertschöpfung und Gewinnerwirtschaftung), den die Individuen gemeinsam erreichen wollen. Nimmt man diese knappen Definitionen als Grundlage, so ist eine Lernende Organisation dann gegeben, wenn wir eine Ansammlung von Individuen vor uns haben, die sich Wissen aneignen. Das wirft sofort allerlei weitere Fragen auf. Wenn beispielsweise ein Mitarbeiter aus der Buchhaltung eines Unternehmens in seiner Freizeit einen Kurs absolviert, um eine Pfadfindergruppe leiten zu können – ist das dann ein Teilprozess und damit Signal für eine lernende Organisation? Spontan würden wir das eher verneinen. Was ist jedoch, wenn dem Unternehmen seine „extern“ erworbenen Fähigkeiten unerwartet zugutekommen, da er wegen eines Krankheitsfalls einspringen muss und nicht nur eine Pfadfindergruppe, sondern gleich die gesamte Buchhaltung „leitet“, ganz routiniert Aufgaben verteilt und Gespräche moderiert? Was ist, wenn aus der Organisation die eine Hälfte fleißig lernt und sich weiterbildet, die andere jedoch nicht?
Auch die Begrifflichkeit der Organisation ist zunächst recht einfach zu fassen, bei genauerem Hinsehen aber auch nicht so einfach: Gehören alle Angestellten zu der Organisation? Was ist, wenn zum Erfüllen des Organisationszwecks „benachbarte“ Organisationen involviert sind, wie z. B. Kunden und Lieferanten, die Politik oder eine Organisation, die besorgt darüber ist, ob auf dem neu zu bebauenden Firmengrundstück nicht eine seltene Spezies weichen muss und dadurch bedroht wird? Wie sieht es aus, wenn zwei Firmen gemeinsam im Rahmen einer Kooperation ein neues Produkt entwickeln und auf den Markt bringen wollen? Reicht es dann, wenn der Projektleiter von Firma A lernt und gut Bescheid weiß? Kann er auf Vorrat lernen und alles parat haben, was er zum erfolgreichen Abschluss des Projekts wissen muss? Wahrscheinlich kann man auf viele dieser Fragen mit einem entschlossenen „weiß ich nicht, kann sein, vielleicht“ antworten und all diese Fragen sind nicht abschließend beantwortbar.
Um nicht nur Fragen aufzuwerfen, sondern auch etwas zu liefern, möchte ich gerne kurz ein Konzept für eine lernende Organisation skizzieren, das wegen seiner Ausführlichkeit gut geeignet ist, sich der Beantwortung dieser Fragen zumindest zu nähern. Es handelt sich um das Konzept der lernenden Organisation nach Peter Senge, dargelegt in seinem Buch Die fünfte Disziplin, erstmals vorgestellt im Jahr 1996. Um die Kritik gleich vorwegzunehmen: Die mangelnde Fokussierung auf harte Fakten wurde damals beispielsweise in der FAZ in einer Rezension mit dem Titel Nicht viel mehr als eine Vision in der Luft zerrissen. Dort heißt es: „In Zeiten, in denen es um die Wiedergewinnung der Wettbewerbsstärke und die Steigerung des Shareholder-Value geht, sind die Unternehmen offenbar eher an harten Fakten interessiert, als sich auf die kaum greifbare Vision 'lernende Organisation' einzulassen.“ (Fieten, 1996). Harte Worte. Doch was kritisiert Fieten da überhaupt?
Das Herzstück des Konzepts sind die fünf Kerndisziplinen, die in ihrer vollen Entfaltung dazu führen, dass sich die Organisation stets weiterentwickeln, anpassen und gemäß Anforderungen der Umwelt verändern – also: lernen – kann. Vier dieser Disziplinen stehen für sich, die fünfte Disziplin (Spoiler: Systemdenken) sorgt dafür, dass alle Disziplinen integriert sind, Beachtung finden und ausgewogen „verfolgt“ werden, denn zwischen den Disziplinen finden sich starke Wechselwirkungen. Schauen wir uns diese Disziplinen einfach kurz an:
1. Personal Mastery
Darunter wird die Identifikation eines Individuums mit seiner Arbeit verstanden und – damit verbunden – der Wunsch, darin gut zu sein bzw. stets besser zu werden. Daraus schöpfen Mitarbeiter Motivation und Zufriedenheit und erleben Sinn. Denken wir an ein Unternehmen, in dem das der Fall wäre: Welche Rolle spielt Führung dann noch? Der Chef als Antreiber und Anschieber hat ausgedient – vielmehr ist der Vorgesetzte derjenige, der Mitarbeitern einen entsprechenden Rahmen zur Verfügung stellt, um ihr Streben nach Besserwerden realisieren zu können. Damit trägt jeder Mitarbeiter zur Anreicherung der gemeinsamen Wissensbasis bei, über die das Unternehmen verfügt. Senge gibt – die Kritik vorwegnehmend – in seinem Buch gleich zu, dass es unmöglich ist, dieses Streben der Mitarbeiter nach Personal Mastery sowie das korrespondierende Führungsverhalten in mehrere Nachkommastellen bezüglich der Wertschöpfung zu fassen.
2. Mentale Modelle
Darunter verstehen wir handlungsleitende Gedächtniskonstrukte, die meist tief im Menschen verankert sind und unbewusst abgerufen werden. Kurz: Der Mensch verhält sich irgendwie, er weiß aber gar nicht so genau warum. Wie sehr diese Vorgänge Arbeitsergebnisse beeinflussen, kann man leicht an einem Beispiel erkennen: Ein Mitarbeiter, der der Meinung ist, den Charakter seines Vorgesetzten gut einschätzen zu können, richtet natürlich seine Arbeitsergebnisse daraufhin aus, was er denkt, was der Chef sehen möchte, auch wenn es nicht unbedingt das Ergebnis ist, das er selbst am besten fände. Somit hat das Mentale Modell bezüglich des Chef-Charakters einen Einfluss auf das Arbeitsergebnis. Für den Umgang mit diesem Phänomen hat der Autor vorgeschlagen, offen in Austausch darüber zu treten, warum man gewisse Dinge tut – und die Führung hat die Aufgabe, diesen Prozess zu ermöglichen, zu steuern und eine angstfreie Atmosphäre dafür zu kreieren. Dabei ist das Ziel nicht unbedingt, eine Einigung zu erzielen, sondern zu hören, welche mentalen Modelle die Kollegen so zu bieten haben.
3. Gemeinsame Vision
Das können wir kurz halten: Darunter versteht man die Identifikation des Unternehmens bzw. seiner Mitglieder mit einem übergeordneten Ziel. Visionen stehen, wenn sie für das Individuum einleuchtend und relevant sein sollen, im Einklang mit den persönlichen Werten und Visionen. Was als Unternehmensvision hochtrabend nach außen auf Hochglanzbroschüren kommuniziert, nach innen aber völlig anders gelebt wird, reißt niemanden in der Belegschaft vom Hocker.
4. Team-Lernen
Diese Disziplin beschreibt das gemeinsame Handeln und den Austausch von Wissen und Erfahrungen, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Hier passt die Redensart, dass "das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist", oder dass man "mit einer Faust mehr Durchschlagskraft als mit fünf einzelnen Fingern" erreichen kann. Dafür sind sowohl beim Einzelnen wie auch bei der Führung Fähigkeiten zur (Selbst-) Reflexion entscheidend. Meinungsverschiedenheiten müssen ausgehalten und moderiert werden, bis man zu einem gangbaren gemeinsamen Weg findet. Nach Senge sind sowohl die (angebliche) Abwesenheit von Konflikten als auch das offene, aber festgefahrene Ausfechten von Konflikten Signale dafür, dass in diesem Bereich Handlungsbedarf besteht. Kurz: Es soll gestritten werden, aber bitte konstruktiv.
5. Systemdenken
Mit der Akzeptanz einer/s Organisation/Unternehmens als ein System und der Einbeziehung der anderen vier Disziplinen zu einem „großen Ganzen“ wird diese Disziplin zum integrierenden Element: Alles, was im System „stattfindet“, ist relevant, hat Einfluss und muss irgendwie Berücksichtigung finden. Im Kern wird mit dem Systembegriff ausgesagt, dass Umwelten sowohl innerhalb des Unternehmens als auch in angrenzenden Unternehmen (Systemen) so komplex und vielschichtig sind, dass eine direkte Steuerung von Prozessen fast unmöglich geworden ist. Was 1996 noch viel revolutionärer geklungen hat, ist uns inzwischen mindestens über die Begrifflichkeit des systemischen Beraters geläufig: Nicht die Elemente im System sind schwierig zu steuern, sondern die Interaktionen zwischen den Elementen.
Wir fassen zusammen: Ein Trupp Selbstverwirklicher (Personal Mastery) redet den Großteil des Tages (Mentale Modelle) darüber, wie sie die Welt verbessern wollen (Gemeinsame Vision), und streitet über die beste Methode dazu in Form eines Debattierclubs (Team-Lernen). Der Chef steht daneben und findet, das gehört so (Systemdenken). Erinnert uns das trotz (oder gerade wegen?) dieser Zuspitzung vielleicht an aktuelle Debatten? Selbstverwirklichung, New Work, Agilität, Sinn, Nachhaltigkeit im Handeln… die Liste ist endlos.
Ich würde sagen: Senge war anscheinend seiner Zeit ca. 20 Jahre voraus.
Welche Startpunkte können wir finden, um uns auf den Weg dahin zu machen? Am einfachsten ist es mit Kernfragen, die jeden der genannten Bereiche beleuchten und eine Art Kurzdiagnose ermöglichen:
- Personal Mastery: Nach welchen Kriterien stellen wir bei uns neue Mitarbeiter ein? Welchen Aspekten geben wir den Vorzug gegenüber anderen (z. B. Fokus auf Noten, Abschlüsse, Zertifikate vs. Fokus auf Erfahrungen, Einstellung und Motivation)? Können wir dahingehend ggf. unser Auswahlverfahren ändern?
- Mentale Modelle: Wie werden bei uns Entscheidungen getroffen? Wie können wir sicherstellen, dass alle relevanten Sichtweisen zu einem Problem gehört werden, bevor eine Entscheidung getroffen wird? Wird dieser Prozess bei uns moderiert und, wenn ja, von wem? Haben wir die Kompetenzen, die es dafür braucht, im Haus?
- Gemeinsame Vision: Nach welchen Visionen handeln wir? Haben wir diese Visionen heruntergebrochen und jedem Mitarbeiter ein Angebot gemacht daran teilzuhaben? Gilt diese Vision für jeden einzelnen Mitarbeiter und ist sie ernst gemeint?
- Team-Lernen: Welchen Raum hat bei uns das gemeinsame Lernen? Fördern wir Situationen (oder unterbinden wir sie zumindest nicht), in denen Mitarbeiter ihre konträren Sichtweisen austauschen können? Wie schaffen wir es, bei einem längeren Lernprozess nicht ungeduldig zu werden, und wie können wir unsere Planungen darauf ausrichten?
- Systemdenken: Wer gehört bei uns alles zum System und woran erkennen wir das? Wie können wir es schaffen, einen möglichst großen Teil des „Systems Unternehmen“ mitdenken zu lassen, wenn wir Entscheidungen treffen? Wie kann man Entscheidungen fördern, die möglichst ganzheitlich gedacht sind – auch wenn sie länger dauern?
Der Zeitaspekt ist insgesamt ein wichtiger, denn mit der Abkehr vom reinen Schauen auf die Zahlen wird ein Unternehmen langsamer. Die Grundsatzfrage lautet, ob man bereit ist, mehr Zeit für bestimmte Dinge einzuräumen und dafür langfristig an Substanz zu gewinnen.
Unsere Gastautorin Gudrun L. Töpfer ist 1982 im tiefen Bayern geboren. Nach dem Abitur hat sie in Freiburg i. Breisgau Bildungswissenschaften studiert und anschließend einen Master in Psychologie absolviert. Nach zwei Jahren Schnuppern in einem Start-Up-Unternehmen hat sie selbst den Schritt gewagt und das Wechselwerk gegründet – eine Unternehmensberatung mit dem Schwerpunkt Arbeits- und Organisationspsychologie. Mit ihrem Hintergrund kann sie besonders da helfen, wo es um die schwerer greifbaren Bereich geht, die den „Faktor Mensch“ betreffen: Veränderungsprozesse, exzellente Führung, Motivation und Unternehmenskultur sowie Qualifizierungsprozesse – alles große Herausforderungen für die Unternehmen in unserer dynamischen Zeit.