Zustellung von deutschen Steuerbescheiden in die Schweiz
VON THORSTEN KLINKNER
Der Bundesfinanzhof (BFH) hat in seinem Urteil am 08.03.2022 in aller Klarheit darauf hingewiesen, dass bei grenzüberschreitenden Sachverhalten nicht einfach auf das deutsche innerstaatliche Recht abgestellt werden kann. Sind zwischen Deutschland und einem anderen Staat, wie beispielsweise der Schweiz, völkerrechtliche Verträge abgeschlossen, welche sich auch steuerlich auswirken, verdrängen diese in ihrem Anwendungsbereich grundsätzlich das innerstaatliche deutsche Recht. Die betreffenden völkerrechtlichen Verträge müssen dann von der deutschen Finanzverwaltung vorrangig geprüft und angewendet werden.
Die zweite wichtige Erkenntnis, die aus dem betreffenden BFH-Urteil vom 08.03.2022 folgt, ist die Verankerung von deutschen völkerrechtlichen Verträgen im System des Völkerrechts. Ein gültiger Völkerrechtsvertrag kann nicht einfach nach deutschen innerstaatlichen Grundsätzen ausgelegt werden. Stattdessen ist ein solcher Vertrag sowohl von Deutschland als auch von der Schweiz nach dem Völkerrecht - konkret nach dem Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23.05.1969 (WÜRV) - auszulegen, da sowohl Deutschland als auch die Schweiz dieses Übereinkommen ratifiziert haben.
Auswirkung des Völkerrechts im Rechtsverkehr zwischen Deutschland und der Schweiz
Die beiden aufgezeigten Erkenntnisse sind seit Jahrzehnten fester Bestandteil der Rechtsprechung. Gleichwohl zeigt die Entscheidung des BFH, dass das Verhältnis zwischen dem Völkerrecht und dem innerstaatlichen Recht in der deutschen Rechtsanwendung nicht immer genau beachtet wird.
Gerade im Rechtsverkehr zwischen Deutschland und der Schweiz kommt dem Völkerrecht eine zentrale Bedeutung zu: Die Anzahl von geltenden völkerrechtlichen Verträgen zwischen den beiden Staaten liegt im dreistelligen Bereich. Hinzu kommen zahlreiche Verträge zwischen der Schweiz und der Europäischen Union, die auch im Verhältnis zu Deutschland anzuwenden sind.
Viele von den betreffenden Verträgen können sich auch auf die Fragen der Besteuerung auswirken. Wird die Anwendbarkeit dieser völkerrechtlichen Verträge übersehen, oder werden die betreffenden Verträge „nur“ rechtfehlerhaft angewendet, handeln die Beteiligten bzw. die Finanzbehörden vorbei an der geltenden Rechtslage. Nicht zu verkennen ist in diesem Zusammenhang, dass Dienstanweisungen der deutschen Finanzbehörden, insbesondere Richtlinien und Hinweise des Bundesministeriums der Finanzen, nur unzureichend auf die völkerrechtlichen Verträge der Bundesrepublik eingehen, so dass Steuerpflichtige bzw. ihre Berater mit dem entsprechenden Know-how und Erfahrung gegenüber der deutschen Finanzverwaltung einen klaren Informations- und Handlungsvorsprung haben.
Übereinkommen über die gegenseitige Amtshilfe zwischen Deutschland und der Schweiz in Steuersachen
Der BFH stützte seine Entscheidung vom 08.03.2022 auf das Übereinkommen über die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen zwischen Deutschland und der Schweiz vom 25.01.1988 in der Fassung des Protokolls vom 27.05.2010, die in Deutschland am 01.12.2015 und in der Schweiz am 01.01.2017 in Kraft getreten ist. Nach diesem Übereinkommen dürfen Steuerbescheide grenzüberschreitend nur durch die Amtshilfe des aktuellen Ansässigkeitsstaats des Steuerpflichtigen zugestellt werden. Unter „Amtshilfe“ versteht das betreffende Übereinkommen sowohl eine Zustellung eines Steuerbescheids an den Ansässigkeitsstaat, der den Steuerbescheid an den Steuerpflichtigen weiterleitet, als auch eine grenzüberschreitende Zustellung eines Steuerbescheides unmittelbar an einen Steuerpflichtigen ohne eine Vermittlung des Ansässigkeitsstaats.
Die Schweiz hat sich vorbehalten, bei der Zustellung von Steuerbescheiden der deutschen Finanzbehörden an die in der Schweiz ansässigen deutschen Steuerpflichtigen keine Amtshilfe zu leisten, so dass für deutsche Finanzbehörden nur die zweite Variante bleibt, nämlich eine unmittelbare grenzüberschreitende Zustellung von Steuerbescheiden durch die Post. Der BFH stellt in seinem Urteil vom 08.03.2022 zurecht klar: Auch eine solche grenzüberschreitende Zustellung von Steuerbescheiden durch die Post stellt eine Amtshilfe im Sinne des betreffenden Übereinkommens dar. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass die Zustellung eines Steuerbescheides eine hoheitliche Handlung der deutschen bzw. der schweizerischen Finanzbehörden darstellt, welche nicht über die Staatsgrenze des zustellenden Staates ihre Wirkung entfalten kann.
Sollte die Zustellung eines Steuerbescheides rechtlich wirksam im jeweils anderen Vertragsstaat erfolgen, bedarf diese völkerrechtlich zwingend der Zulassung bzw. der Mitwirkung durch den anderen Staat. Hieraus folgt der BFH nachvollziehbar, dass auch eine grenzüberschreitende Zustellung deutscher Steuerbescheide durch die Post völkerrechtlich ebenfalls als eine Amtshilfe der Schweiz zu qualifizieren ist, die ihr Staatsgebiet für grenzüberschreitende Zustellungen der deutschen Finanzverwaltung geöffnet hat.
Zeitliche Anwendbarkeit des Übereinkommens über die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen
Das Übereinkommen über die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen in der Fassung des Protokolls vom 27.05.2010 trat in der Schweiz am 01.01.2017 in Kraft. Hieraus folgt nach dem BFH, dass erst deutsche Steuerbescheide ab dem Veranlagungszeitraum 2018 nach dem betreffenden Übereinkommen durch eine grenzüberschreitende Postzustellung in der Schweiz wirksam bekanntgegeben werden können. Für Steuerbescheide früherer Veranlagungszeiträume ist dieser Weg der Postzustellung nach dem besagten Übereinkommen nicht eröffnet. Mangels anderer Alternative bleibt Deutschland deshalb für Veranlagungszeiträume bis einschließlich 2017 nur die öffentliche Zustellung nach der deutschen Abgabenordnung an die in der Schweiz ansässigen deutschen Steuerpflichtigen.
Fazit: Folgen für deutsche Steuerpflichtige in der Schweiz
Für deutsche Steuerpflichtige, die in der Schweiz ansässig sind, hat das BFH-Urteil vom 08.03.2022 weitreichende Auswirkungen. Die betreffenden Steuerpflichtigen können und dürfen nicht erwarten, dass die deutsche Finanzverwaltung Steuerbescheide für Veranlagungszeiträume vor 2018 an sie per Post zustellt, selbst wenn die Steuerpflichtigen der deutschen Finanzverwaltung ihre Schweizer Adresse mitteilen und um die postalische Zustellung der Steuerbescheide an sie bitten. Für solche postalischen Zustellungen in die Schweiz fehlen der deutschen Finanzverwaltung schlichtweg die Befugnisse. Das Völkerrecht steht solchen Zustellungen entgegen. Die einzige Möglichkeit für betroffene deutsche Steuerpflichtige, öffentliche Zustellungen deutscher Finanzbehörden an sie zu vermeiden, ist die Bestellung eines Empfangsbevollmächtigten in Deutschland nach § 123 Satz 1 Abgabenordnung (AO), an den die deutsche Finanzverwaltung rechtswirksam Steuerbescheide mit Wirkung für den Steuerpflichtigen bekanntgeben kann. Erst für Steuerbescheide ab dem Veranlagungszeitraum 2018 kann die deutsche Finanzverwaltung den Weg der grenzüberschreitenden postalischen Zustellung in die Schweiz nutzen.