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BFH: Zustellung von Steuerbescheiden in der Schweiz

AO §§ 122, 155, VwZG § 9, WÜRV Art. 31, StAHiÜbk Art. 1, 2, 17, 28, 30

Eine Zustellung von Einkommensteuerbescheiden an einen in der Schweiz wohnhaften Steuerpflichtigen unmittelbar durch die Post ist völkerrechtlich erstmals für Besteuerungszeiträume ab dem 01.01.2018 zulässig.

 

BFH, Urteil vom 08.03.2022 - VI R 37/19, n.V.

Vorinstanz: Finanzgericht Düsseldorf, 08. Oktober 2019, 10 K 963/18 E, EFG 2019, 1809

 

Mit seinem Urteil vom 08.03.2022 hat der BFH in aller Klarheit darauf hingewiesen, dass bei grenzüberschreitenden Sachverhalten nicht einfach auf das deutsche innerstaatliche Recht abgestellt werden kann. Sind zwischen Deutschland und einem anderen Staat völkerrechtliche Verträge abgeschlossen, welche sich auch steuerlich auswirken, verdrängen diese in ihrem Anwendungsbereich grundsätzlich das innerstaatliche deutsche Recht. Die betreffenden völkerrechtlichen Verträge müssen von der deutschen Finanzverwaltung vorrangig geprüft und angewendet werden.

 

Der BFH hob im bezeichneten Urteil die Verankerung der deutschen völkerrechtlichen Verträge im System des Völkerrechts hervor. Ein gültiger Völkerrechtsvertrag kann nicht einfach nach deutschen innerstaatlichen Grundsätzen ausgelegt werden. Stattdessen ist ein solcher Vertrag nach dem Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23.05.1969 (WÜRV) - auszulegen.


Sachverhalt zum BFH, Urteil vom 08.03.2022 - VI R 37/19, n.V.

Mit der Revision greift das beklagte Finanzamt die Entscheidung des Finanzgerichts Düsseldorf an, das eine wirksame Zustellung von Steuerbescheiden an den in der Schweiz seit 2013 ansässigen Kläger für die Veranlagungszeiträume 2009 bis 2013 verneinte.

 

Das beklagte Finanzamt gab den Kläger auf, Einkommensteuerbescheide für diese Veranlagungszeiträume zwecks Einzelveranlagung abzugeben, und forderte diesen ferner auf, einen inländischen Bevollmächtigten zu benennen. Sollte der Kläger dieser Aufforderung nicht nachkommen, wies das beklagte Finanzamt diesen darauf hin, dass der Schriftverkehr dem Kläger in diesem Fall nur im Wege einer öffentlichen Zustellung bekanntgegeben werden könne. Darauf teilte der Kläger dem beklagten Finanzamt seine Adresse in der Schweiz mit und bat dieses, den Schriftverkehr an seine Schweizer Adresse zu senden.

 

Nach Aufhebung der alten und dem Erlass der neuen Einkommensteuerbescheide für die Veranlagungszeiträume 2009 bis 2013 ordnete das beklagte Finanzamt eine öffentliche Zustellung der Aufhebungsbescheide und der neuen Einkommensteuerbescheide an. Mit Schreiben vom gleichen Tag informierte das beklagte Finanzamt den Kläger postalisch über die öffentliche Zustellung der bezeichnete Aufhebungsbescheide und der Einkommensteuerbescheide und sendete Kopien dieser Bescheide postalisch an die Adresse des Klägers in die Schweiz. Gegen die Aufhebungsbescheide und die neuen Einkommensteuerbescheide erhob der Kläger Einspruch, dem kein Erfolg beschieden war. Auf die Klage des Klägers entschied das Finanzgericht Düsseldorf, dass die neuen Einkommensteuerbescheide dem Kläger nicht wirksam bekanntgegeben worden seien. Das beklagte Finanzamt erhob gegen das erstinstanzliche Urteil anschließend Revision wegen Verletzung des materiellen Rechts.


Entscheidung (BFH, Urteil vom 08.03.2022 - VI R 37/19, n.V.)

In seinem Urteil erkannte der BFH die Revision des beklagten Finanzamts für begründet, hob das erstinstanzliche Urteil auf und wies hat die Klage ab. Der BFH stützte seine Entscheidung auf das Übereinkommen über die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen zwischen Deutschland und der Schweiz vom 25.01.1988 in der Fassung des Protokolls vom 27.05.2010, die in Deutschland am 01.12.2015 und in der Schweiz am 01.01.2017 in Kraft getreten ist. Hieraus folgerte dem BFH, dass deutsche Steuerbescheide nach dem betreffenden Übereinkommen erst ab dem Veranlagungszeitraum 2018 durch eine grenzüberschreitende Postzustellung in der Schweiz wirksam bekanntgegeben werden können.

Für Steuerbescheide früherer Veranlagungszeiträume ist dieser Weg der Postzustellung nach dem besagten Übereinkommen nicht eröffnet. Mangels anderer Alternative bleibt Deutschland deshalb für Veranlagungszeiträume bis einschließlich 2017 nach dem BFH nur die öffentliche Zustellung nach der deutschen Abgabenordnung an die in der Schweiz ansässigen deutschen Steuerpflichtigen, sofern diese im Inland keinen inländischen Empfangsbevollmächtigten im Sinne § 123 Satz 1 Abgabenordnung (AO) bestellen.

 

Nach dem betreffenden Übereinkommen über die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen zwischen Deutschland und der Schweiz dürfen Steuerbescheide grenzüberschreitend nur durch die Amtshilfe des aktuellen Ansässigkeitsstaats des Steuerpflichtigen zugestellt werden. Unter einer „Amtshilfe“ versteht das betreffende Übereinkommen nach dem BFH sowohl eine Zustellung eines Steuerbescheids an einen Steuerpflichtigen unter Vermittlung des Ansässigkeitsstaats (hier: der Schweiz), der den Steuerbescheid an den betreffenden Steuerpflichtigen weiterleitet, als auch eine grenzüberschreitende Zustellung eines Steuerbescheides unmittelbar an einen Steuerpflichtigen ohne eine Vermittlung des Ansässigkeitsstaats.

 

Die Schweiz hat sich vorbehalten, bei der Zustellung von Steuerbescheiden der deutschen Finanz-behörden an die in der Schweiz ansässigen deutschen Steuerpflichtigen keine Amtshilfe zu leisten, so dass für die deutschen Finanzbehörden nur die zweite Variante - nämlich eine unmittelbare grenz-überschreitende Zustellung von Steuerbescheiden durch die Post - bleibt. Der BFH stellt in seinem Urteil klar, dass auch eine solche grenzüberschreitende Zustellung von Steuerbescheiden durch die Post eine Amtshilfe im Sinne des betreffenden Übereinkommens darstellt. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass die Zustellung eines Steuerbescheides eine hoheitliche Handlung darstellt, welche ihre Wirkung nicht über die Staatsgrenze des zustellenden Staates entfalten kann.

 

Sollte die Zustellung eines Steuerbescheides rechtlich wirksam im jeweils anderen Vertragsstaat erfolgen, bedarf diese völkerrechtlich zwingend der Zulassung bzw. der Mitwirkung durch den anderen Staat. Hieraus folgert der BFH nachvollziehbar, dass auch eine grenzüberschreitende Zustellung deutscher Steuerbescheide durch die Post völkerrechtlich ebenfalls als eine Amtshilfe der Schweiz zu qualifizieren ist, die ihr Staatsgebiet für grenzüberschreitende Zustellungen der deutschen Finanzverwaltung geöffnet hat.

 

Im vorliegenden Fall hatte der BFH über einen Sachverhalt zu entscheiden, der die Veranlagungszeiträume zwischen 2009 und 2013 betraf, so dass das Übereinkommen über die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen zwischen Deutschland und der Schweiz auf diesen Sachverhalt nicht anzuwenden war. Hieraus folgerte der BFH, aus unserer Sicht nachvollziehbar und folgerichtig, dass die vom beklagten Finanzamt vorgenommene öffentliche Bekanntgabe von Steuerbescheiden an den Kläger wirksam und die Klage deshalb abzuweisen war.


Praxishinweis zur Zustellung von Steuerbescheiden in der Schweiz

Für deutsche Steuerpflichtige, die in der Schweiz ansässig sind, hat das BFH-Urteil vom 08.03.2022 weitreichende Auswirkungen. Die betreffenden Steuerpflichtigen können und dürfen nicht erwarten, dass die deutsche Finanzverwaltung Steuerbescheide für Veranlagungszeiträume vor 2018 an sie per Post zustellt, selbst wenn die Steuerpflichtigen der deutschen Finanzverwaltung ihre Schweizer Adresse mitteilen und um die postalische Zustellung der Steuerbescheide an sie bitten. Für solche postalischen Zustellungen in die Schweiz fehlen der deutschen Finanzverwaltung bis einschließlich Veranlagungszeitraum 2018 schlichtweg die Befugnisse, da das Völkerrecht solchen Zustellungen entgegensteht. Die einzige Möglichkeit für betroffene deutsche Steuerpflichtige, öffentliche Zustellungen deutscher Finanzbehörden an sie zu vermeiden, ist die Bestellung eines Empfangsbevollmächtigten in Deutschland nach § 123 Satz 1 AO, an den die deutsche Finanzverwaltung rechtswirksam Steuerbescheide mit Wirkung für den Steuerpflichtigen bekanntgeben kann. Erst für Steuerbescheide ab dem Veranlagungszeitraum 2018 kann die deutsche Finanzverwaltung den Weg der grenzüberschreitenden postalischen Zustellung in die Schweiz nutzen.

 

Die dargelegten Grundsätze der BFH-Entscheidung zu Reichweite und Wirkung des Völkerrechts auf dem Gebiet des Steuerrechts sind seit Jahrzehnten fester Bestandteil der Rechtsprechung. Gleichwohl zeigt die Entscheidung des BFH, dass das Verhältnis zwischen dem Völkerrecht und dem innerstaatlichen Recht nicht immer genau beachtet wird. Gerade im Rechtsverkehr zwischen Deutschland und der Schweiz kommt dem Völkerrecht jedoch eine zentrale Bedeutung zu: die Anzahl von geltenden völkerrechtlichen Verträgen zwischen den beiden Staaten liegt im dreistelligen Bereich, hinzu kommen zahlreiche Verträge zwischen der Schweiz mit der Europäischen Union, die auch im Verhältnis zu Deutschland anzuwenden sind.

 

Viele der  betreffenden Verträge können sich auch auf die Fragen der Besteuerung auswirken. Wird die Anwendbarkeit dieser völkerrechtlichen Verträge übersehen, oder werden die betreffenden Verträge „nur“ rechtfehlerhaft angewendet, handeln die Beteiligten bzw. die Finanzbehörden vorbei an der geltenden Rechtslage. Nicht zu verkennen ist in diesem Zusammenhang, dass Dienstanweisungen der deutschen Finanzbehörden, insbesondere Richtlinien und Hinweise des Bundesministeriums der Finanzen, nur unzureichend auf die völkerrechtlichen Verträge der Bundesrepublik eingehen, so dass Steuerpflichtige bzw. ihre Berater mit dem entsprechenden Knowhow und Erfahrung gegenüber der deutschen Finanzverwaltung einen klaren Informations- und Handlungsvorsprung haben.

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